/9/ Prof. Jörn Merkert, Direktor der Berlinischen Galerie Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur von 1987 bis 2010, Rede zur Ausstellungseröffnung „Alexander Sgonina – Skulpturen und Zeichnung“ - In der Galerie Mitte, Samstag, 30. März 1996

zurück zu: Beton für BronzeTexte

Lieber Alexander Sgonina,
liebe Frau Kukla,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

Kunst und Künstler sind immer noch für Überraschungen gut. Erst recht, wie es scheint, wenn der Künstler Alexander Sgonina heißt. Der Künstler nimmt sich seine Freiheit – und wenn wir versuchen wollen zu verstehen, dann haben wir ihm zu folgen, auch auf noch so widersprüchlichen Wegen; wir haben keine andere Wahl. Auch wenn seine Kunst sich radikal wandelt, wie in einer großen Pendelbewegung von einem Endpunkt zur alten Mitte zurückkehrt und neu ausschwingend in andere Grenzbereiche vorstößt.

Wer Sgoninas letzte Ausstellung unter dem Titel „Orte“ im September 1994 in der Galerie im Turm gesehen hat, der mag damals nicht wenig erschrocken sein. Erschrocken darüber, dass dieser Künstler seine plastischen Ideen, seinen Begriff von Kunst bis an eine Grenze vorgetrieben hatte, bis an einen Nullpunkt von Bildhauerei. Körperliche Anschaulichkeit war fast gänzlich aufgegeben, Volumen auf Kernprodukte in freiem räumlichen Zueinander reduziert. Meinen damaligen Text zum Katalog begann ich mit dem Satz: „Alexander Sgonina einen Bildhauer zu nennen, mag auf den ersten Blick kühn erscheinen.“ Und der Betrachter sei „auch nach wiederholtem Schauen geneigt, solche begriffliche Zuordnung zu verweigern.“ Wer allerdings seine Ausstellung 1991 hier in diesen Räumen gesehen hatte, der musste sich auch eingestehen, dass diese „Orte“, diese Grenzzonen, die Sgonina 1994 erreichte, in sehr genauer, letztlich radikaler Konsequenz ganz aus der künstlerisch-logischen Verwandlung seines Werkes entwickelt worden waren, nämlich mit Hilfe einer fortschreitenden Reduzierung von Volumen und Formen und letztlich der Verweigerung von formgebender Gestaltung.

Und heute?

Der Betrachter wird im Eingangsraum mit Werken empfangen, die noch einmal diesen aus der letzten Ausstellung bekannten „Nullpunkt“ setzen. Da wagen wir eben kaum mehr von Bildhauerei zu sprechen. Und nicht zufällig tragen die Tafeln an der Wand auch allesamt den Titel: „Grenzzeichen“. Um so anrührender für den Besucher, in den anschließenden Räumen wieder Figur zu sehen. Aber er ist irritiert, denn wenn er es nicht unwillkürlich spürt, dann ist er durch das Spannungsfeld des dialektischen Gegensatzes zwischen den rein abstrakten „Grenzzeichen“ im Eingang und den neuen Figuren der Ausstellung – eben „irritierend“ – dazu angehalten, diese Figuren anders zu betrachten: in ihnen keinen Rückfall zu erleben, keinen Rückgriff auf von früher vertraute skulpturale Ausformungen; sondern sich auf das Abenteuer des Geistes einzulassen: zu erkunden und zu entdecken, dass es sich mit den neuen Arbeiten wieder ganz anders verhält als mit den früheren figurativen Arbeiten. Sind die neuen doch allesamt durch die Erkenntnis des Durchstreifens der Grenzzonen gegangen.

Mit den Mitteln des Bruchs: Dem „Mäander“ aus Draht und dem fragmentarischen „Grenzzeichengerüst“, das mit sanfter Ironie noch an die alte klassische Form des „Reliefs“ erinnert – und eigentlich immer noch eine „stehende Figur“ aus analogen Zeichen zusammensetzt und damit auf seinen Ereignischarakter verweist – mit diesen in die Präsentation der Ausstellung quasi subversiv eingeschleusten Arbeiten erinnert Sgonina den Besucher einerseits unübersehbar an die Spannbreite zwischen dem Nullpunkt seiner Bildhauerei und den jetzigen Arbeiten. Und andererseits daran, dass der Besucher die so klassisch und traditionell erscheinenden figürlichen Arbeiten von diesem Nullpunkt aus zu betrachten und als mit ihm zusammengehörig zu erkennen hat.

Auffällig ist, schaut man nur genauer, dass Widersprüchliches der Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit bleibt. Sitzen, Liegen, Stehen, letztlich: Posieren sind die Haltungen der Figuren, kein Schreiten, kein Moment der Bewegung, kein barockes Ausgreifen, sondern Ruhe-Stellungen haben die Figuren eingenommen, gerade auch dann, wenn sie nur auf einem Bein stehen – als ob es einfacher oder nur so möglich sei, an ihnen / mit ihnen etwas nicht Festzuhaltendes festzuhalten. Einerseits. Und dann wieder sind die Figuren mit ihren aus kleinteiligen Volumen zusammengesetzten Körpern, die von vielfachen Lineaturen und Rastern auflösend durchfurcht, manchmal sogar gänzlich durchschnitten sind, so nervös, so bewegt nicht nur in ihrer Oberfläche, nein, sind sie so sehr durchdrungen von dieser Bewegtheit, dass ihr ganzer Körper erfasst wird – dass von ihnen als Ganzes große Unruhe ausgeht. Wie wenn sie ein Energiefeld sind, in dem sich für einen Moment Bewegung plastisch verdichtet hat. Aber eben keine Bewegung des Körpers, sondern Bewegung von Energie, die sich hier zur Materie geklumpt, geschichtet, zusammengeballt – und Gestalt angenommen hat.

In einigen dieser Skulpturen suchen wir vergeblich nach plastischer Genauigkeit der Darstellung, obwohl wir – zumal aus einiger Distanz – sie als ganzheitlich, als vollständiges „Abbild“ lesen und erkennen können. Denn es geht ja gar nicht um „Darstellung“. Also entdeckt auch genaues Hinschauen keinen plastischen Gesichtsaufbau aus tiefen Augenhöhlen, hervortretenden Wangenknochen, vortretendem Volumen der Nase mehr, sondern ein rein abstraktes Geflecht von Lineaturen, die sich zwar hier und dort zu Mustern verschränken. Doch das Muster ist nicht gemeint. Die Linien fügen sich dazu, wenn sie im genauen, fast naturalistischen Bezeichnen die Stellung von Ohr zu Kiefer zu Stirn zu Wangenknochen, von Kopf zu Hals zu Schulter zu Oberkörper etc. verbinden. Dieser gleichsam anatomisch analysierende – und darin quasi naturalistische – Formzugriff zerstört die traditionelle bildhauerische Form und bindet sie zu abstraktem Volumen. Sie ist plastisches wie zeichnerisches Mittel, die Form gestalterisch aufzulösen, wie gleichzeitig sie zu binden – zu binden in die Veranschaulichung von Gewichten, Beziehungen und energetischen Zusammenhängen. Die linearen Setzungen sind in diesen neuen Arbeiten so wichtig, dass sie, ganz eigentümlich, bisweilen farbig nachgefahren und auf diese Weise herausgehoben werden. Zeichnung und plastische Hervorhebung trennen sich gleichermaßen, wie sie zugleich innigste Verbindung eingehen.

Natürlich ist solche Formgebung im Werk von Sgonina nicht unvertraut. Sie entstand selbst dann, wenn auch sehr an den Rand seiner Arbeit gerückt, als er sich vornehmlich im Terrain der Grenzzone des Nullpunkts aufhielt. Jetzt ist er seit einiger Zeit wieder zum Mittelpunkt seiner Arbeit zurückgekehrt: Dem sichtbaren Menschenbild. Doch wer sich ge nauer mit den „Orten“ seines Grenzbereichs beschäftigt hat, weiß, dass auch dort das Bemühen um das Menschenbild nie aufgegeben war. Das Menschenbild ist der geheime, bisweilen kaum mehr sichtbare Verbindungsfaden zwischen den beiden Extremen der völligen Ungegenständlichkeit und der Figuration.

Doch die Rückkehr zum erkennbaren Menschenbild ist eben nicht allein Rückkehr zum Zentrum der künstlerischen Arbeit von Alexander Sgonina. Sie ist zugleich wieder neues Terrain erkunden, ist wieder ein Überschreiten. Denn experimenteller als je setzt der Künstler die Farbe ein. Nicht nur im meist schwarzen Nachmalen der Linien. Wie eine Haut überzieht die Farbe weitflächig ganze Teile der Figuren. Dadurch wird das Netzwerk der Linien noch deutlicher, wird es kontrastreich hervorgehoben, wirkt es bisweilen wie übergestülpt. Wenn sich der Künstler vereinzelt dann doch der Augen, Nasen, Wangen als Volumen für das Gesicht bedient, ist es also gerade der farbige Kontrast, mit dem die Lineatur die plastische Form wieder zu Abstraktion zerlegt. Immer wieder bedeutet die farbige Fassung im Gesamtzusammenhang der Figur aber selbst auch Zergliederung; und zweifellos treten die farbigen Teile der Figur – hervorgehoben – in einen besonderen Dialog mit den ungefassten Teilen. Es ist dies eine zusätzliche Fragmentarisierung der Figur, die ohnehin durch das Liniennetzwerk und gar durch Schnitte zergliedert ist. Farbe ist zugleich eine Betonung, denn sie gibt dem gefärbten Volumen ein anderes spezifisches Gewicht, sie bedeutet eine plastische Gewichtung, gibt diesem Teil der Figur also letztlich eine andere, hervorgehobene Bedeutung.

An den Zeichnungen, vor allem und besonders schön an der langen Reihe der „Sitzenden“ im Nebenraum, wird anderes, aber Verwandtes deutlich. Die Figur als schemenhafte, wie aus einem Nebel plastisch aufscheinende, ganz abbildhafte Gestalt ist überlagert mit sicheren, kurvenreich ausfahrenden, zu einem abstrakten Gerüst im Raum sich fügenden scharfen Strichen, die wie übergeblendet erscheinen und ganz in den Vordergrund treten. Diese sind nicht unwillkürlich gesetzt, sondern folgen Schwingungen, die in der Haltung, in der Stellung verborgen vorhanden sind. Sie zeichnen zugleich Zusammenhänge zwischen den Körperteilen heraus, stellen sie manchmal sogar mit Teilen des Stuhls her. Es ist dies also ein überlagerndes, aus der Darstellung herausgefiltertes Gerüst. Es zerstört die anschauliche Menschengestalt und macht zugleich etwas ihr Innewohnendes, sonst nicht Sichtbares, deutlich. Nähme man nur diese Raumkonstruktionen aus scharfen Strichen – man befände sich dann wieder im Feld der „Grenzzeichen“, der völlig reduzierten, rein abstrakten und doch das Menschenbild bezeichnenden Formen. Nähme man nur die hinterliegenden Menschendarstellungen – sie wären nahe am Konventionellen, am Traditionellen. Hier wird en nuce fassbar, welche Feldforschung im Grenzbereich Alexander Sgonina betreibt.

Er ist auf der ständigen Suche nach den Möglichkeiten des Menschenbildes heute, nach Methoden – vielleicht nicht einmal unbedingt Formen, obwohl man das kaum voneinander trennen kann, schon gar nicht als Bildhauer – sucht also nach Methoden, mit den Mitteln der Kunst das uralte Thema „Menschenbild“ in eine zeitgenössische Anschauung zu bringen. Die ausdrucksstarke iorm, Ausdruck überhaupt, taugen ihm nicht mehr. Das ist besetzt, ausgeschritten, ausformuliert. Also muss die Form und die Gestaltung überwunden werden. Daran hat er beharrlich und konsequent gearbeitet – und endete in streng kontrollierter Formlosigkeit, in der er letzte „Orte“ nur noch mit „Grenzzeichen“ im Nichts, am Nullpunkt festmachen konnte. Jetzt ist Alexander Sgonina nicht einfach zur anschaulichen Figur zurückgekehrt; er hat sie gleichsam einem anderen Verwandlungsverfahren unterzogen. Und er beobachtet wie ein Naturwissenschaftler, was sich aus dieser Neuanordnung des Experiments ergibt. Einige erste Ergebnisse sind vorzuweisen aus diesem Versuch, die Sehnsucht nach der Anschaulichkeit des Menschenbildes heute noch zu verwirklichen; die Sehnsucht nach der sinnhaften, sinnfälligen und sinnreichen – ja, auch sinnlichen – anschaulichen Darstellung des Menschen in der Bildhauerei als Gegenbild zur Wirklichkeit Gestalt werden zu lassen, ohne dabei jedoch einfach der Tradition oder einer traditionellen Gestaltung zu verfallen. Es ist dies der stille, jedoch große und kühne Versuch, doch noch mit den Mitteln der Bildhauerei eine geistige Durchdringung des Menschenbildes zu erreichen, die zumindest einen Teil der Wirklichkeiten aus Technik, Physik, Biologie, Chemie oder Astronomie am ausgehenden 20. Jahrhundert noch aufzugreifen vermag, Wirklichkeiten, die wir alle täglich an uns erfahren und die alle im Bereich der Grenzüberschreitung angesiedelt sind. Das im Detail auszuführen, meine Damen und Herren, ist hier nicht der Ort. Ich lasse diese Behauptung also als eine kleine Provokation zum Nachdenken für Sie einfach mal so stehen.

Nachher, wenn Sie die Ausstellung wieder verlassen, gehen Sie ja noch ein letztes Mal wieder wie durch eine Schleuse, durch die Eingangszone, durch den „Ort“ des Nullpunkts im Werk von Alexander Sgonina.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Prof. Jörn Merkert

Direktor der Berlinischen Galerie

© 2018 by Alexander Sgonina - Impressum - Datenschutz