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Alexander Sgonina ist als promovierter Kernphysiker schon von dieser Profession her an Grenzbereichen des Elementaren interessiert, den kleinsten Materieteilchen, dem Umschlag von einer materiellen Qualität in eine andere, am Wechsel von Wertigkeiten und Quantitäten, aber naturgemäß ebenso am Grenzbereich der Wahrnehmung. Dies alles hat er im weitesten Sinne mit dem Künstler gemeinsam. Der Künstler aber erforscht nicht nur das Unsichtbare, sondern macht das Geheimnis unserer Lebenswirklichkeit im geglückten Kunstwerk ein Stück weit sichtbar. So war denn Mitte der siebziger Jahre Sgoninas Abkehr von diesem speziellen Feld der experimentellen Naturwissenschaft und der Beginn seiner Ausbildung zum Bildhauer womöglich in Wahrheit gar kein erstaunlicher, radikaler Bruch, sondern nichts anderes als ein Quantensprung der besonderen Art.
Das hat ihn als Künstler ganz und gar frei gemacht, denn an den stets widersprüchlichen Kontext der Kunst war er im Grunde von seiner Position aus nicht gebunden. Seine künstlerische Suche, die Selbstfindung als Bildhauer und die Entwicklung seiner ureigenen plastischen Sprache hatten ihre gewissheitliche Richtung, weil er sich um das künstlerische Denken der anderen und der Früheren gerade nicht zu kümmern brauchte. Denn sein Ansatz war radikal verschieden, und seine berufliche Herkunft weist ihm bis heute den Weg. Das heißt nicht, dass dieser Weg einfach gewesen wäre. Aber er musste sich kaum an einen formalen Kanon – welcher Art auch immer – halten und sich daran abmühen. Er brauchte sich auch nicht um bildnerische Gesetzlichkeiten zu kümmern. Das heißt aber auch, dass Sgonina in seiner künstlerischen Existenz von Anfang an ganz außerhalb stand, dass er sich mit dieser Freiheit auf völlig unabgesichertem Terrain bewegte, dass er sich mit seinem einzelgängerischen Tun der Unsicherheit förmlich auslieferte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Natürlich hat er immer Ausschau gehalten, wo er in der Kunstgeschichte auf Verwandtes stieß – oder gar auf so diametral Entgegengesetztes, dass gerade im Extrem des absoluten Gegenpols Benachbartes aufschimmerte.
In der Beschäftigung mit der Kunst und ihrer Geschichte hatte er aber auch erkannt, dass die klassischen Aufgaben und tradierten Vorgehensweisen des Künstlers – das anschauliche Gegenbild zur Wirklichkeit zu formen und zu gestalten – auf seiner experimentellen Suche nur hinderlich sein würden. Zwangsläufig müsste er auf diesen Wegen immer wieder zu dem einen, wie auch immer gearteten ‚abgeschlossenen’ Werk – also in der Sicherheit – gelangen, was es doch gerade zu vermeiden galt, wenn er Grenzen überschreiten wollte. Wie konnte es ihm also, zumal in der Bildhauerei, gelingen, die angestrebte absolute Kunstlosigkeit und prinzipielle Vermeidung einer zur Gestalt verfestigten Form zu erforschen und diesen Auflösungsprozess dennoch im Kunstwerk anschaulich zu machen?
Das Feld seiner Untersuchungen war relativ einfach abgesteckt. Da es ihm um das kunstlose Kunstwerk ging, um das Werk, in dem nichts Künstlerisches an Ausdruck und Form den Blick auf die eigentliche Erkenntnis verstellen sollte, war es letztlich egal, welche bildhauerische Technik er benutzte – denn jede musste er dazu erst ‚aufbrechen’, um jene Kunst-, Form- und Gestaltungslosigkeit zu erreichen, in der alles offenbar werden könnte. Aber die betont handwerkliche Disziplin der Bildhauerei musste es schon sein: ganz haptisch, physisch mit der Materie umzugehen. Und was ist in der Kunst materieller, körperlicher, geschmeidiger, ja, fleischlicher, auch dies, als das Arbeiten mit Gips und Ton, später auch Zement?
Ein weiterer Aspekt, das Experimentierfeld einzugrenzen, kam hinzu: Sollten die elementaren Untersuchungen tatsächlich grundlegenden Charakter haben, konnte Sgonina nur an dem Ausgangspunkt beginnen, der alle Künstler seit Menschengedenken beschäftigt: das Menschenbild. Dennoch hat Sgoninas Kunst, die den Betrachter in ihrer schutzlosen Kunstlosigkeit regelrecht zu verstören vermag, auch unter diesem Aspekt herzlich wenig mit den tradierten Formen der Bildhauerei zu tun. Auch und gerade dann nicht, wenn auf den ersten Blick die stehenden, sitzenden, lagernden, posierenden, gleichsam in tänzerischer Bewegung angehaltenen Menschenfiguren genau daran erinnern. Sie für traditionelle, womöglich gar konventionelle Plastiken zu halten, ist der fundamentale Irrtum, dem der Betrachter bei der ersten Begegnung leicht unterliegt. Dennoch fügt sich Sgonina, dieser Widerspruch ist nicht zu übersehen, mit seinen Figuren sehr wohl in eben diese Tradition, der er sich unübersehbar zugleich entzieht.
Schaut man genauer, sind sie in ihrem äußeren Erscheinungsbild wie seziert, ist der gesamte Leib von einem Netzwerk tiefer Furchen überzogen, erkennt man zerlegende Schnitte, die wie geographische Koordinaten die Landschaft des Körpers erfassen. Distanzen und Größenrelationen werden festgelegt, Volumina vermessen und in ihrem scheinbar fixierten Zueinander analysiert. Die damit einhergehende aufgerissene Haut, die gratige, schrundige, lichtbrechende und deswegen flirrende Oberfläche der gesamten Figur hat aber mit der nervösen, auch handschriftlichen Expressivität eines Alberto Giacometti zum Beispiel überhaupt nichts zu tun. Denn hier geht es nicht etwa darum, Sichtbares festzuhalten, das in Fern- und Nahsicht so grundlegend anders sich zeigt und bei Giacometti in der Realität des Kunstwerks unsere Seherfahrungen erweiternd zusammentrifft. Doch wie Giacometti geht es auch Sgonina um eine Grenzsituation des begreifenden Schauens: nicht den menschlichen Körper in seinen Volumina als äußeres oder inneres Abbild zu gestalten, sondern den Punkt, die Punkte herauszufinden, an denen die Architektur des Körpers als Ganzes wie in seinen Teilen in ihrer gegliederten Verknüpfung offengelegt werden kann; ihre Verbindungen – im Wortsinne „Gelenke“ – aufzudecken; lastende Gewichte, hängende Balancen, spannungsvolle Schichtungen und ihre ständigen Veränderungen in der Bewegung auf ihre äußerste Verdichtung zu reduzieren, bis zu jenem Kern bloßzulegen, an dem eine Darstellung umschlägt in die anschauliche Erkenntnis jenseits des Abbilds.
Dieses Vorgehen wird sehr viel verständlicher, wenn wir die scheinbar rein abstrakten Arbeiten von Alexander Sgonina bedenken, die so ganz im augenscheinlichen Widerspruch zu seinen Menschenbildern stehen. Das können in fragwürdigem Gleichgewicht gehaltene, manchmal beiläufig mit Draht zusammengebundene Gerüste aus Holzstücken sein, an denen formlose Klumpen aus Gips wie Auswüchse undefinierter organischer Masse ihren Ort gefunden haben. Oder Platten aus Gips, in die – wie flüchtige Spurzurücklassungen im Schnee, doch zeichenhaft deutlich – markierende Punkte eingegraben sind, die ein unvertrautes Spannungsfeld abzustecken scheinen. Oder ein großflächiges Schüttsieb für Baumaterialien, auf dem sich wie zufällig grobe Teile verfangen haben, die aber doch unübersehbar in einem sehr genauen Bezugsfeld zueinander stehen. Das können auch irdene Gefäße oder Keramikteller sein, auf denen knappe Striche, kleine schwarze Rechtecke, auf der leeren Fläche nichts bezeichnen außer ihren Ort und ihre präzise Stellung zu den anderen. In seinen Arbeiten auf Papier – „in“ Papier wäre genauer – finden wir Bleistiftstriche, Einrisse, Knicke und Faltungen, die ebenfalls nichts darstellen außer sich selbst und ein Netzwerk von exakten Punktbeziehungen über die Leere des Papiers ausspannen. Für Sgonina sind diese Arbeiten die knappste noch bezeichnende Formulierung – nicht Formgebung! – der Verortung von Energie, die letzte Grenzmarkierung vor dem völligen Verschwinden der Darstellungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers. Darin unterscheiden sie sich aber letztlich nicht von den plastischen, haptisch nachvollziehbaren und raumbesetzenden Menschenbildern. Auch sie stoßen in diesen Grenzbereich zum Unbekannten vor.
Gern zieht Sgonina, wenn er über seine Arbeiten spricht, das Beispiel von der digitalisierten Welt heran, in der Töne, Bilder, Formen und Farben durch einfache Markierungen nach dem Null-und-Eins-System erfasst werden, Wirklichkeit genauestens beschreibbar wird, ohne sich des Abbilds zu bedienen. Mehr noch, denn Wirklichkeit wird mit Digets nicht nur beschrieben, sondern übersetzt, in eine andere Wirklichkeit – nicht etwa allein eine andere Form – transformiert, in der sie bearbeitet, verändert, transportiert, kombiniert, manipuliert werden kann. Diese andere Wirklichkeit bestimmt in wachsendem Maße, auch unbemerkt, unsere Alltagsrealität, unsere Erfahrungen, unser Leben. Sgonina erforscht nicht mehr im Sinne eines fragwürdigen Fortschritts im Bereich der Kernphysik die Zusammensetzung, Zerlegbarkeit und Veränderbarkeit der Realität, sondern vergewissert sich mit den altmodischen Mitteln der Kunst in aller Ungesichertheit der eigenen – und unserer – Existenz. Denn die Kunst bleibt der entscheidende Quantensprung, mit dem allein unsere Lebenswirklichkeit in allen Gegensätzen und Widersprüchen umfassend benannt werden kann, weil sie so wenig verifizierbar ist wie das Leben.
Direktor der Berlinischen Galerie
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