/4/ Prof. Jörn Merkert, Direktor der Berlinischen Galerie Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur von 1987 bis 2010, Eröffnungsrede zur Ausstellung Alexander Sgonina „FIGUREN-PLAN“ in der Galerie im Turm, Juni 2006

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Lieber Alexander Sgonina
Liebe Frau Reinauer
Sehr geehrte Frau Clemens
Liebe Bärbel Kicska
Lieber Herr Schmalwaßer
Meine sehr verehrten Damen und Herren

Alexander Sgonina ist – wie wohl jeder gute Künstler – ein Forscher. Aber er ist es mehr als andere. Struktureller. Das mag in der Natur der Sache liegen. Schließlich ist Sgonina promovierter Kernphysiker. Erst mit 33 hat er 1976 sein Studium der Bildhauerei begonnen. Seit 1981 betreibt er Forschung mit den Mitteln der Kunst. Forschung immer noch auf dem Feld von Energie und Materie, der Spannungen, Bedingtheiten, Abhängigkeiten von Volumen, also Gewichten und Gewichtungen im Raum und in der Fläche, im Bereich des Schwergewichts überhaupt und der darin wirkenden Kräfte und ihrer Aufhebung. Poetisch gesehen, forscht er als Künstler also immer noch auf dem Gebiet der Physik; poetisch gesehen, hat es in seiner Biographie einen Bruch zwischen Wissenschaft und künstlerischem Tun offensichtlich viel weniger gegeben, als man zunächst meinen könnte. Und natürlich will er, wie jeder gute Wissenschaftler, wie jeder gute Künstler, zum Kern der Dinge und der Welt vordringen. Sgonina muss für sich erkannt haben, dass dies ganz bestimmt nicht einfacher geht, aber genauer mit den nur scheinbar ungenaueren Möglichkeiten der Kunst. Daher ist sein Tun immer auch in hohem Maße nie abgeschlossenes Experiment.

Mit einer leichten Verwunderung habe ich bei der Vorbereitung für heute Abend festgestellt, dass diese Rede nun schon mein vierter Text über Alexander Sgonina ist, und genau genommen habe ich im Laufe von rund zwölf Jahren jedes Mal über einen überraschend anderen Alexander Sgonina geschrieben. Jedenfalls müsste ich das sagen, wenn ich im traditionellen Fahrwasser der Auseinandersetzung mit Kunst bliebe. Aber Sgonina ist in aller erkenntnisreichen Verwandlung seines Werkes immer bei sich geblieben und hat sein Ziel nie aus den Augen verloren. Trotzdem: Im oberflächlichen Rückblick könnte man meinen, da wüsste einer nicht, worauf er denn hinaus will: mal die Figuration – immer der weibliche Akt –, dann wieder völlig reduzierte, absichtsvoll formlose plastische Gebilde, die man nicht mehr Skulptur nennen, kaum mehr als Kunst bezeichnen mag. Radikale Auflösung der Form und Gestaltung, scheinbar rücksichtslos gegen das eigene Tun in den Grenzbereich zum Nichts vorstoßend. Da gibt es Arbeiten auf Papier, auf denen es – fast! – nichts zu sehen gibt, ein paar Risse, Knicke, manchmal wenige, sorgsam gesetzte Punkte in der völligen Leere des weißen Blattes. Muss man an solchem Endpunkt als Künstler nicht aufgeben? Ganz aufhören? Wie kann man dann einfach wieder zur Figur zurückkehren? Wäre das dann nicht Flucht? Zum Beispiel zu solch feinen, ganz stillen Etüden wie dort drüben, vor denen man spürt, wie genau und behutsam jede noch so kleinste Verschiebung der Körperhaltung, der Schultern, der Hüften, der anders gesetzten Füße beobachtet werden will. Wie kriegt man solche Widersprüche als anteilnehmender Betrachter zusammen?

Wenn wir denn in der Kunst aus guten Gründen schon nicht von Fortschritt reden wollen und können; aber dann doch wenigstens von Entwicklung! Die muss ja nicht geradlinig sein, darf Sprünge und Brüche haben. Aber dann lässt der Künstler etwas zurück, gibt etwas auf, und alles klärt sich beruhigender Weise in früh und spät, ordnet sich zu Werkgruppen, die in sich abgeschlossen sind. Das alles gibt es bei Sgonina nicht. Und das beunruhigt zutiefst.

So erging es mir jedenfalls, als ich meine alten Texte noch einmal las. Vorher war ich nach langer Zeit noch im Atelier gewesen, um mich darauf vorzubereiten, was er denn dieses Mal zeigen wollte, mit welch anderem Sgonina ich es wohl zu tun haben würde. Und in der Tat: von dem, woran ich eben andeutend erinnerte, ist heute nichts zu sehen. Doch ich begriff allmählich – endlich – wie Sgonina vorgeht. Wir sind nicht mit einer traditionellen Werkentwicklung konfrontiert, in der aus der inneren Logik der Arbeit ein bildnerischer Fund den anderen ablöst. Sondern wir haben es mit sehr unterschiedlichen Forschungsfeldern zu tun, die sich berühren, überschneiden und überlagern. Um Klarheit zu schaffen, hat der Künstler sein Werk in schmalen unveröffentlichten Heften nach diesen Feldern geordnet, und die heißen dann – ich nenne nur einige – „Anthropo-Metrisch“, „Grenzzeichen“, „Köpfe“, „Modellierte Figur“, „Orte“ oder „Richtungen“. Und heute gewinnen wir hier Einblicke in das Thema „Figuren-Plan“. Zu jedem der genannten Themen gibt es Arbeiten in ganz unterschiedlichen Techniken aus den verschiedensten Jahren, mal steht für eine Zeit das eine im Vordergrund, mal das andere – und der Künstler kann mühelos wieder zu einem anderen „Experimentierfeld“ zurückkehren. Wobei mit „Experiment“ natürlich die forschende Untersuchung gemeint ist – denn welche Wissenschaft wäre ungewisser und ungesicherter als die des schöpferischen Tuns in der Kunst. Wir können uns also wieder beruhigen, aber müssen begreifen: Seine Experimentierfelder sind immer gleichzeitig präsent, sind nie und nimmer völlig ausgeschritten; auf sie kann je nach Bedarf zurückgegriffen werden. Denn im künstlerischen Denken von Alexander Sgonina gibt es keine gleichsam vorgeschriebene, werkimmanente Geradlinigkeit. Sondern wir haben es mit einem immer engmaschiger verknüpften Netzwerk aus unterschiedlichen Perspektiven auf und aus verschiedensten Fragen an das eine große Thema zu tun: das Menschenbild.

Nehmen wir den Titel dieser Ausstellung. Heißt es „der“ Figuren-Plan oder: „die“ Figuren plan? Da gibt es offensichtlich den Plan, also die Anordnung des Experiments oder das Konzept der Versuchskonstellation, Figuren, dreidimensionale Menschen als Bild auf der Fläche des Papiers und nach ihren zweidimensionalen Gesetzlichkeiten zu fassen zu versuchen. „Der Figuren-Plan“. Aber gleichzeitig ist zwingend darin enthalten, „die Figuren plan“, ganz flach zu erfassen.

Sgoninas Arbeit hinterliegt, wir hatten es schon festgestellt, stets das Menschenbild, dessen er sich ständig aufs Neue vergewissern muss. Der Themenbereich „Modellierte Figur“ ist wahrscheinlich das Herzstück seiner Untersuchungsbereiche und dazu gehören diese feinen, fast unscheinbar auftretenden kleinen Zeichnungen, in denen er auf einem Blatt, fast tagebuchartig, mehrere einzeln datierte Aktdarstellungen versammelt. In „Anthropo-Metrisch“ und in “Orte” untersucht er die verdichteten Kernpunkte, wo plastische Materie und kinetische Energie aufeinandertreffen, bzw. eine unauflösbare Vereinigung eingehen – zum Beispiel an den Gelenken. Daraus ergibt sich ein Netzwerk aus punktuell gesetzten Notationen, die den Körper auf ab­strakte, ganz entkörperliche Weise gleichsam kartographisch erfassen. Ein solches Netzwerk hat er auch auf die Papierbahnen gesetzt, die wir hier sehen. Mit ausfahrenden, nichts beschreibenden Lineaturen hat er sie dann wieder in direkten Zusammenhang versetzt, sie ganz einfach auf organisch bewegte Weise verbunden, und so ein Menschenbild zurückgewonnen, das aber in nichts weniger „abstrakt“ ist als die Koordinatenpunkte. Denn das ist kein Erfassen des Abbilds der Figur mehr, keine Abstraktion des Menschenbildes, die durch die Entschlackung oder Umformung des Abbildes gewonnen würde. Das Bild des Menschen gerät mit Sgoninas Vorgehensweise zu einem reinen Energiefeld, ganz ohne Darstellung von Volumen.

Dieses erste Ergebnis treibt er nun auf zwei Wegen weiter, spitzt die Erforschung zu: Einmal, darin der Chaosforschung sehr nahe, durch Wiederholung und Wiederholung und Wiederholung, bis deutlich wird, dass sie endlos gemeint ist. Zum anderen durch Drehung der Bildfläche – und dann natürlich drittens durch die Kombination von beidem. Durch die Wiederholung und die sich bisweilen fast automatisch sich ergebenden Überlagerungen entsteht ein kaum mehr zu durchschauendes Geflecht der Linien; versucht der Betrachter sie zu „entwirren“, stellt er fest, dass oft mehr als eine Figur erscheint, dass die eine Liniengruppe mal zu der einen und dann wieder zur anderen Figur gehört. Und schaut er nur genauer, wandert er durch dieses „Chaos“ des Liniengestrüpps – das durch die Energiepunkte stets in strenge Ordnung gehalten ist – dann macht er die überraschende Entdeckung, dass sich neben der frontalen Ansicht plötzlich eine Seitenansicht, eine Rückenansicht ergibt, ohne dass sich die Formensprache verändert hätte. Und mal gehört ein und dieselbe Liniengruppe nicht nur zu zwei Körperdarstellungen, sondern mal gehört sie zu Vorder-, dann wieder zur Seiten- und dort zur Rückenansicht. Die zeichnerischen Elemente sind so abstrakt, dass sie mehrere Darstellungen gleichzeitig sein können. Und doch tragen sie als ungegenständliches Energiefeld alle Formen der gegenständlichen Abbildung in sich.

Meine Damen und Herren, das ist eigentlich alles ganz einfach zu erkennen, ist weit weniger kompliziert, als es sich in der Beschreibung anhört. Vertrauen Sie ganz einfach Ihren Augen, aber benutzen Sie sie auch wirklich!

Sgonina wäre nicht Sgonina, wenn er diese während der erforschenden Zeichnung überraschend sich einstellende bildnerische Einsicht nicht weiter systematisch untersuchen würde – und zum Beispiel auf diesem langgestreckten Format die Figur von allen Seiten erfasst. Aber auch hier bleibt er ganz bei den Gesetzen der Fläche; denn er breitet die Rundum-Erfahrung des räumlichen Sehens im Nebeneinander aus. Aber noch einmal: allein aus der im „Experiment“ angewendeten systematischen Methode der rein abstrakten Verbindung von Energiepunkten. Mit den ganz traditionellen, wenn nicht altmodischen Mitteln von Zeichenkohle auf Papier gelingt Sgonina aber noch etwas ganz Modernes, Grenzüberschreitendes: die Integration des Ablaufs von Zeit in der festgehaltenen Bewegung – die aber ja im Grunde gar nicht stattfindet! Sgonina stellt sie nicht etwa dar, sondern in der Anwendung seiner Methode und Systematik ereignen sich Zeit und Bewegung, entstehen sie allein durch das geordnete Energiefeld. Und durch diese beiden Koordinaten Zeit und Bewegung integriert er auf poetische, letztlich physikalisch genaue Weise im reinen Flächenbild den Raum – ebenfalls ohne ihn je darzustellen. Auch der Raum ereignet sich.

Die zweite Zuspitzung seines Experiments, die Drehung, ist als Eingriff so einfach, fast banal, wie es sich anhört. Dieser Eingriff grüßt freundlich-ironisch zu Baselitz hinüber. Und wird wegen derselben Wirkung hier wie dort vom Künstler eingesetzt: Nämlich den Betrachter von der sich einstellenden figurativen Lesbarkeit abzulenken, auf dass er seine Aufmerksamkeit der reinen Bildgestalt zuwende. Kurzum, die Ab­straktion wieder in den Vordergrund zu rücken.

Aus solcher Klarheit herstellenden Verunklärung heraus kann Sgonina einen weiteren experimentellen Schritt machen: nämlich spannende Formteile herauslösen, und das Bild zerlegen, ein oder mehrere Fragmente als für sich stehende Gestalt nehmen, die ja auch als Teil immer noch die Bündelung der energetischen Körpererfassung bleiben. Manchmal, in plastischen Gebilden aus Keramikbändern, die an Reliefs erinnern, werden sie wieder zum tatsächlich räumlichen Element, also zur Skulptur. Die rein grafischen Teile übersetzt Sgonina in Stempel, mit denen er Druckgrafiken herstellt, in denen sich diese Teile zu völlig verwandelter Anschaulichkeit zusammenfügen – sei es in wiederholender Reihung des Stempels oder abermaliger Drehung des Formmotivs, so dass ein völlig neu geordnetes Muster entsteht, das in wie endloser Vervielfältigung ganz überraschenden Ausdruckscharakter bekommt; an Tücher, Schleier mag man denken, an die nicht endenden, mit sich selbst spielenden Ornamente arabischer Arabesken – und, ja, auch an das nächtliche Himmelszelt mag man sich erinnern, durchfunkelt von Milliarden von Sternenlichtern, Sternschnuppen und ernergetischen Lineaturen. Aus der darstellerischen Untersuchung des Menschenbildes auf der Fläche, in logischer Entwicklung der bildnerischen Versuchsanordnung, fern aller gestalterischen Formfragen ein kosmisches Bild zu entfalten, das Licht, Bewegung und Zeit und so den Raum erfasst, ohne etwas davon abzubilden – das ist das überraschende Ergebnis dieses Experiments „Figuren-Plan“, zu dem ich Alexander Sgonina herzlich beglückwünschen möchte.

Ich bin mehr als gespannt, welche seiner thematisch gebundenen Experimentierfelder Alexander Sgonina demnächst aufgreifen wird, welche neuen Versuchsanordnungen er aufbauen wird, wohin ihn seine Erkenntnisforschung über das Wunder Mensch mit den Mitteln der Kunst führen wird.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen einen inspirierten Abend und gute Gespräche – auch mit dem Künstler.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Prof. Jörn Merkert

Direktor der Berlinischen Galerie

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