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Exakte Orte des Nichts
Zur Kunst von Alexander Sgonina
Alexander Sgonina einen Bildhauer zu nennen, mag auf den ersten Blick kühn erscheinen. Zwar arbeitet er mit Ton, Gips und Beton an Drahtgerüsten und Holzgestellen, ganz klassischen Techniken also, aber viele, wenn nicht die meisten seiner plastischen Arbeiten sind in einem Maße reduziert, daß der Betrachter auch nach wiederholtem Schauen geneigt ist, solche begriffliche Zuordnung zu verweigern. Ähnlich zögert man, Sgonina einen Zeichner zu nennen, sind doch seine Arbeiten auf Papier nur, flüchtig gesehen, äußerst zurückgenommene, fast beiläufige und sehr sparsame Spurzurücklassungen, wie willkürliche Setzungen weniger Linien, vereinzelter Punkte.
Und doch teilt sich aus der Unmittelbarkeit der Anschauung ganz unverstellt mit, daß hier ein eminent künstlerischer Geist am Werke ist. Es bleibt die Schwierigkeit, diese eigentümliche Erfahrung zu benennen. Sie ist — ob man es sich bewußt macht oder nicht — nahe dem Schock, daß das Kunstwerk mit äußerster Kunstlosigkeit auftritt. Dennoch umfängt es den Betrachter sofort mit seiner Aura. Er spürt einen verletzlichen Ernst und strengste Genauigkeit als die schutzlose Haltung, der es seine Entstehung verdankt. Begegnen wir ihm in offener und darin ähnlich fragiler Empfindungsfähigkeit, stellt sich unvermittelt eine distanzierte Nähe zum Kunstwerk her — doch scheint es sich jeder spontanen Zugänglichkeit zu verweigern. Darin zeigt sich eine Hermetik, die an hoheitliche Zeichenhaftigkeit von Kunst erinnert, hier aber mit der Kühle fremdartiger Formlosigkeit in Erscheinung tritt. Unentschlüsselbar offenbart das Kunstwerk, was es ins sprechende Geheimnis kleidet.
Unübersehbar bleibt, daß das Erschrecken über das Kunstlose sich nicht wegen einer antikünstlerischen Haltung einstellt: weder durch eine provozierende Verweigerungsgeste, noch durch den Gestalt gewordenen Hinweis, in gedankenvoller Durchdringung das noch nicht als Kunst Erkannte in seiner Kunstmächtigkeit zu erleben. Nein, das Erschrecken liegt gerade darin begründet, daß die Arbeiten von Alexander Sgonina uns immer noch in einer im weitesten Sinne traditionellen Form von Bildhauerei entgegentreten, dabei jedoch jeder Gestalthaftigkeit entkleidet sind. Das ist keine Frage von Abstraktion und Abbild. Denn kein dialektisches Widerspiel von künstlerisch autonomer Form und natürlich-organischer Darstellung hilft dem Betrachter weiter. Das plastische Gebilde ist wie durch ein Fegefeuer gegangen, das alles zu Schlacke, der Essenz des Stofflichen, zusammenschmelzen ließ und alles weggebrannt hat, was uns aus der Sprache der Bildhauerei verständlich ist: Keine Volumen mehr, allenfalls Verdichtungen von Masse; kein aufgebautes, in sich geschlossenes Gefüge, sondern labiles, isoliertes Innehalten der einzelnen Teile-, kein physischer Zusammenhang, keine körperlichen Abhängigkeiten zwischen ihnen, sondern schwebende Offenheit; auch keine Integration des leeren Raumes als gleichberechtigtes, antithetisches Element zur geschlossenen Form, denn es gibt keine, die den leeren Raum noch umschriebe; auch keine ausgreifende, dreidimensionale Lineatur gestischer Bewegungen, jedoch Punkte im Raum; keine ruhende Statik, sondern fragmentarisch-disparates Nebeneinander; und oft genug kein Stehen auf dem Sockel mehr, dafür Lehnen und Hängen; allenfalls sind diese Plastiken auf einer rohen Standplatte ephemer befestigt, daß sie sich gerade noch aufrecht halten können, oder sie sind wie beiläufig abgestellt. Lattengerüst und gebogene Drähte sind lediglich praktische, in der Form beliebige Hilfsmittel, gestaltlose Masse zu halten. Sie sind keine sorgsam gewählten Materialien, die in ihrer noch unbekannten Schönheit im Kunstwerk zur Ausdrucksfähigkeit gedrängt werden. Die rauhe und schrundige Oberfläche der vereinzelten, geklumpten Massenverdichtungen, ihre Vertiefungen, Höhlungen, Dellen, Einschnitte und hervortretenden Grate sind zwar Ergebnis des knetenden Zugriffs ins nachgiebige Material; sie sind jedoch keine individuelle Handschrift als gleichsam letzte, urzeitliche Spur elementaren Gestaltungswillens. Denn Sgonina geht es nicht um eine noch so reduzierte visuelle Sprache einer in sich bewegten Formsetzung der Materie. Diese Spuren sind nichts anderes — und auch als nicht anderes gemeint — als die unvermeidlichen, formlosen Begleiterscheinungen des Arbeitsprozesses — des Hinzufügens und Wegnehmens, des Andringens und Setzens von Masse. Wollte er auch diese Spuren noch tilgen, geriete er zwangsläufig wieder in das Feld der Gestaltung. Dies aber scheint er augenscheinlich unbedingt vermeiden zu wollen. Ein eigentümliches, wenn nicht gar befremdliches Anliegen für einen Künstler, erst recht speziell für einen Bildhauer, der doch in Proportionen, Gewichtungen, in Bezügen innerhalb des Werkes wie in denen zum umgebenden Raum denkt.
Den Schock dieser Bildhauerei bewirkt das radikal Formlose, das nicht Gestaltete. Wir begegnen der völligen Askese, der umfassenden Enthaltsamkeit gegenüber dem künstlerischen Formwillen. Ganz im Widerspruch dazu steht, daß gerade dafür genauestes bildnerisches Denken und strengste Kontrolle —eben der Formlosigkeit — erforderlich ist. Verständlich aber wird dieser Widerspruch, weil sich der Künstler mit dieser Art der Vorgehensweise im absoluten Grenzbereich bewegt. Denn sein Ziel ist nicht mehr, ein anschauliches Gegenbild — gar Menschenbild — zur Wirklichkeit zu formen, das seine Berührungsfähigkeit und Überzeugungskraft gerade aus der ihm eigenen leiblichen Bildlichkeit, durch seine plastisch-voluminöse Gestalthaftigkeit auf den Betrachter ausübt.
Diesen Weg hatte Sgonina in den Arbeiten der letzten Jahre für sich differenziert ausgeschritten. Dabei gerieten ihm die figürlichen Arbeiten mehr und mehr zu Untersuchungen über Spannungsfelder vonEnergien. Denn nach und nach waren nicht mehr die klassischen proportionalen Zuordnungen der Volumen und Gliedmaßen der menschlichen Physis das Thema, sondern die in der Rhythmik des Zueinanders aller Teile, in Gesicht und Schädel, in Brust, Bein und Gelenk, aber auch in der Gesamtheit des Körpers selbst wirkenden Kräfte tatsächlich anschaulich werden zu lassen. Mit zeichnerischem Netzwerk überzogen, das aber nichts mehr im Wortsinne bezeichnen sollte, waren diese Menschenleiber versichernd eingespannt in ein ungeformtes Diagramm, das die geschlossene, auf sich bezogene Form der Gestalt zugleich zersetzte und dabei ihr energetisches inneres Spannungsfeld bloßlegte. Mit solcher Entgrenzung des bildhauerischen Körpers war zwangsläufig die Zerstörung gestalteter Anschaulichkeit verbunden, die er in einzelnen Arbeiten wie in einem Vorentwurf seiner heutigen Position zu radikaler Vereinfachung trieb. Dennoch kehr- te er in versichernden Rückgriffen wiederholt zur ab-bildhaften Figur zurück, die ihm unter den Händen aber zu durchdringender Fragmentarisierung geriet; auf immer mehr konnte er verzichten, vieles brauchte nur noch angedeutet zu werden, um die Energiefelder sichtbar herauszubilden: Energie ohne Materie. Weil Materie ohnehin Energie ist? In seinen jetzigen Arbeiten hat er sich ganz freigemacht von jedem Abbild, jeder Gestalt, jeder Form. Und dennoch, schaut man nur genau, bezeichnet jedes Element seiner Plastiken einen verdichteten Punkt dieses im Körperlichen angesiedelten und zugleich entmaterialisierten Energiefeldes. Seine Orte werden plastisch anschaulich gemacht und in ihren spannungsgeladenen Beziehungen immateriell im Raum verknüpft. Dabei erleben wir in körperlich-sinnlicher Wahrnehmung uns so vertrautes wie Schwere und Leichtigkeit, Halten und Stehen, Lasten und Tragen, Greifen und Tasten, Schweben, Innehalten und Gehen.
Ähnliches können wir auch, wie sollte es anders sein, auf Sgoninas „Zeichnungen" beobachten, die man am besten wohl als Arbeiten in Papier" oder noch genauer: „Arbeiten aus Papier" bezeichnete. Es ist hier nicht der Ort, das auszuführen; denn wir begegnen in diesem Ausdrucksmedium trotz aller bruchlosen inneren Verwandschaft zu seiner Bildhauerei einer anderen Welt, die ihrer eigenen Erkundung bedarf. Nur so viel: Die gerissenen Papiere, gefaltet, in unregelmäßigen Streifen ein- und ausgerissen, geknickt, tragen nicht nur ähnliche Spuren der Beschädigung, der Entgrenzung in sich, sie sprechen auf ihre Art, in ihrem Material, nicht nur in vergleichbar fragmentarisch-ephemerer Weise — sie sind für den Künstler selbst die wohl am meisten entkörperlichte und zugleich jeder anschaulichen Gestaltbildung entzogene Form seiner Bildhauerei. In der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist es nicht unbekannt, daß gerade die Bildhauer zur Erkundung ihres ureigenen künstlerischen Gegenstandes — des Raumes — die radikalsten und grenzüberschreitende Untersuchungen vorgenommen haben, weil sich an ihm zugleich elementar und zentral die Wirklichkeit unserer neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Wahrnehmung entfaltet. Die Malerei konnte sich selbst an den Nullpunkt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten begeben und hat dafür im „Schwarzen Quadrat auf weißem Grund" von Kasimir Malewitsch ihre anschauliche Ikone geschaffen. Die Bildhauerei aber hat mit der Realität selbst zu tun. Sie ist als materielles Gebilde im Raum und in der Zeit zugleich tatsächlich Raum und Zeit selbst. Der Spanier Julio Gonzäiez schuf deswegen die freie, aus Einzelteilen zusammengesetzte Konstruktion im Raum, die sich erst im zeitlichen Ablauf des Umschreitens als prozessualer Gegenstand unserer Vorstellung realisiert. Der Russe Naum Gabo erweiterte die Durchsichtigkeit der Skulptur mit der Transparenz seiner Materialien und bezog die physikalische Kinetik der Skulptur selbst mit ein. Beide Wege waren — höchst folgenreich — mit der Entkörperlichung der Plastik verbunden. Der Schweizer Alberto Giacometti arbeitete an dem kühnen Versuch, die Anschaulichkeit der Existenz in der Unendlichkeit von Raum und Zeit im Menschenbild zu bewahren; da es sich aber gleichermaßen in größter Nähe wie in größter Entfernung der Faßbarkeit entzieht, gab er ihm in meisterlichem Zugriff die Qualität der Erscheinung.
In solcher Tradition arbeitet Alexander Sgonina. Deswegen versagen alle Stilbegriffe. Deswegen mag die radikale Entgrenzung aller plastischen Bildmittel auf den ersten Blick auch als kunstlos erscheinen und den Betrachter erschrecken. Tatsächlich aber unternimmt Sgonina keinen geringeren Versuch, als der Ortlosigkeit unserer Welt in kristallinem künstlerischem Denken wieder Orte zu geben, dem Nichts, der letzten Entgrenzung, exakte Orte zu entreißen.
Berlin, im September 1994
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