/2/ Dr. Fritz Jacobi, Kurator Altes Museum/Nationalgalerie/Neue Nationalgalerie von 1970 - 2009, Eröffnungsrede zur Ausstellung „Alexander Sgonina – Gezeichnete Figur – Skulptur und Zeichnung“ in der Galerie Mitte Berlin am 18. 01. 1991

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Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Alexander Sgonina,

Es fällt in gewissem Sinne schwer, angesichts des Krieges mit dem Irak über Kunst zu sprechen. Es stellt sich erneut die Frage, ob wir mit unserem täglichen Trachten und Tun wirklich die eigentlichen Probleme berühren oder ob wir nicht allzu oft die Augen vor den tatsächlichen Notwendigkeiten verschließen. Andererseits ist es gerade wieder die Kunst, die zu den Bereichen gehört, in denen zumindest Fragen, auch eben unbequeme Fragen, aufgeworfen werden. Denn: Kunst ist nicht irgendein Zubehör, sondern sie ist eines der zentralen Momente menschlichen Seins, das möglicherweise jetzt erst recht gebraucht wird.

Als ich mir gestern die Ausstellung und noch einmal die Arbeiten von Alexander Sgonina ansah, gingen mir diese Gedanken auch durch den Kopf – und es geschah das Eigenartige, dass sich bei mir das Gefühl einstellte, gerade seine Arbeiten sind in der Lage, den merkwürdigen Druck, der wohl bei vielen von uns in der augenblicklichen Weltsituation vorhanden ist, auszuhalten, ja so etwas wie einen Resonanzraum zu bilden, der diese nachdenklich-gepressten Befindlichkeiten zulässt und sogar einschließt. Ich hatte plötzlich den Eindruck, aktueller Problematik gegenüberzustehen.

Woher rührt dieses Empfinden? Liegt es an der fast schmerzhaften Verknappung der Formen, an der Reduzierung des optisch-greifbaren Bestandes bis hin zu einfachsten Gebilden? Ist es diese scheinbare Formlosigkeit? Sind es diese wie zufällig aufgefunden wirkenden Teilstrukturen, die zunächst einmal so ganz und gar nichts mit gewohnter künstlerischer Durchformung zu tun zu haben scheinen? Ich glaube, dass all diese Momente mit zu diesem Eindruck beitragen.

Die Arbeiten von Sgonina sind Auslöser, gerade weil das Materielle, das Bedeutungshafte so extrem zurückgenommen wird. Es findet eine Verdichtung statt, in der sich das Sichtbare immer stärker zurückzuziehen scheint, um dem Immateriellen Raum zu geben. Der Betrachter wird fast zur Meditation gezwungen, die Leere des Blattes oder das Lapidare der plastischen Form ziehen den Blick an, um ihn in andere, eigene Problem- oder Konfliktbereiche weiterzuleiten.

Diese Formkürzel entwickelt Sgonina aus der menschlichen Figur heraus. Die Ausstellung zeigt diese verschiedenen Stadien, die kein Nacheinander, sondern ein gleichzeitiges Miteinander in seinem Schaffensprozess bilden. Es sind verschiedene Stadien der Durchdringung, die von der körperlich noch fassbaren Form bis zum Zeichen und darüber hinaus zur bloßen Spur reichen, in der irgendein gewesenes Sein noch schattenhaft geahnt werden kann. Sgonina legt Spannungen frei, die über das bloß Sichtbare hinaus reale Existenz wesentlich mitbestimmen, ohne dass wir sie genau benennen können. Ihm schweben – wie er selbst sagt - !“virtuelle“ Figuren, also mögliche aber nicht wirklich vorhandene Figuren vor, die eben durch jene unwägbaren Kräfte bestimmt werden. Er bindet uns ein in Prozesse, die von Strömungen erfüllt sind. Das scheinbar Umgeformte, Zurückgelassene wird zur Brücke, die diese Energien überträgt.

Als wir gestern miteinander noch einmal über das Problem der scheinbaren Formlosigkeit sprachen, führte er – um zu verdeutlichen, was er meinte – die Poesie an: Gängige Worte werden so aneinandergefügt, dass sie dennoch einen völlig neuen Gehalt ergeben, dass gleichsam spricht, was zwischen oder hinter ihnen liegt, dass etwas ausgelöst wird, was letztlich nicht zu fassen ist. Ein Vergleich, der Wege auch zu seinem Werk ebnet, zu einem Werk, das scheinbar mit so wenig daherkommt und dennoch von einer intensiven Ernsthaftigkeit, ja Schwere getragen wird.

Da ich von Poesie sprach, möchte ich mit einem kurzen Gedicht von Rafael Alberti schließen, das – so glaube ich – auch etwas von der Not enthüllt, in die wir heute alle gleichermaßen gestellt sind:

Der Engel (1927)
Er stößt gegen die Türen,
stößt gegen die Bäume.
Nicht sieht ihn das Licht, noch der Wind,
noch sehn ihn die Scheiben.
Selbst nicht die Scheiben.
Er kennt nicht die Städte.
Er hat sie vergessen.
Tot geht er dahin.
Aufrecht tot, durch die Straßen.
Fragt ihn nicht. Haltet ihn an!
Nein, lasst ihn.
Ohne Augen, ohne Stimme, ohne Schatten.
Sogar ohne Schatten.
Unsichtbar für die Welt,
für jeden.

Schönen Dank!

Dr. Fritz Jacobi

Kurator Altes Museum/Neue Nationalgalerie

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