Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Alexander Sgonina,
manchmal will es scheinen als ob es seltsame Kräfte gäbe, die etwas fügen, was im Nachhinein eine Art Sinn bekommt; wo Zufälle sich als Teil einer Ordnung erweisen.
So erging es mir jetzt. Als ich vor ein paar Tagen in einer Telefonzelle ein paar liegengelassene Bildpostkarten fand, nahm ich eine davon mit, heftete sie an ein Notizbuch und trug sie seitdem mit mir herum.
Als ich gestern in die Ausstellung von Alexander Sgonina kam, und das Relief Raumkonzeption „Stehende Figur“ sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Karte, die ich mitgenommen hatte, zeigte den berühmten steingewordenen Abdruck des Arche Opterix, des Urvogels aus dem Naturkundemuseum in Berlin – Geschichte gewordener Zufall, der Form von eigenartiger Faszination erbracht hat und zugleich Form zu dem ein Teil der Arbeiten des Berliner Bildhauers in verwandter Beziehung stehen – die andererseits aber ihre ganz eigene Sprache entwickelt haben.
Für mich ergab dieses merkwürdige Zusammentreffen zugleich auch das Stichwort für diese Ausstellung: Die hier versammelten Zeichnungen, Materialbilder, Reliefs und die eine Plastik, entstanden im Zeitraum der letzten 5 Jahre, ließen sich zusammenfassen mit dem Wort S p u r e n .
Und so wie dieser Abdruck des Arche Opterix eine seltsame Schwebe aufweist zwischen vorhandener Realität und dahingegangener ins nicht mehr Fassbare abgesunkene Zeit, so tragen auch die ungemein sensiblen Bildungen und Findungen Sgoninas für mich diese Schwebe zwischen dem Existenten und dem in irgendeiner Art andere Welt zurückgetretenen, das aber nicht völlig verlöscht ist, sondern noch Spuren hinterlassen hat, die zugleich auch Realität annehmen könnten. Eine merkwürdige Ambivalenz also, die der Künstler hier vor uns hinstellt, mit sparsamsten, zum Teil alltäglichen Mitteln und Materialien erreicht, so dass schon dabei das Schwanken beginnt.
Darf ich das ernst nehmen? Mich diesen, wie nebenbei entstandenen und so ganz und gar von jeglichem kunstgewohnten Stil entfernten Formen überlassen, die ich so oder ähnlich ja ohnehin täglich um mich habe. Der Boden scheint entzogen und nur „Die Spuren“ sprechen von nachvollziehbaren Entstehungsprozessen, und zwar so, dass man, so meine ich, nicht umhin kommt, sich ihnen zu stellen.
Immer wieder diese aufragenden, leichtgebrochenen Linien, fast isoliert, zuckend in die Fläche gestellt, mal zart – fast verdämmernd, mal eindeutig scharf und breitpinselig gesetzt. Immer wieder diese Flecke, die wie Reste eines Farbanstrichs wirken, diese Faltungen und Knitterungen, diese unregelmäßigen Begrenzungen, diese unterschiedlichen Papiere, aus denen zuweilen wie Wundpflasterstellen herausgerissen, herausgeschnitten und wieder aufgeklebt sind. Drähte, die wir Umwicklungen anmuten, Bretter, die einfach an die Wand gelehnt sind aber ihre Konstruktivität durch Einkerbungen, Stückung oder scheinbar übriggebliebene Beschläge verloren haben. Und so könnte ich weiter aufführen, was Sie selbst sehen. Sie merken, wie dieser immer wieder gleich angeschlagene Grundakkord eine Vielfalt von Variationen anklingen lässt, und gerade wegen der scheinbaren Kunstlosigkeit die Sinne ganz, ja fast schmerzlich und letztlich doch weitgehend fordert, und in eben jenen Bereich zwingt, der mit diesem Phänomen der Spur der Vorübergehenden und dazu noch belanglos wirkenden Erscheinung verbunden ist. Spuren, die von etwas Gewesenem künden, das man aktivieren und in wieder eine greifbare Vorstellung bringen möchte.
Was war da? Was hat zu dieser zurückgebliebenen Spur geführt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber in mir lösen diese Arbeiten Alexander Sgoninas auch einen ganz realen Gegenwartsbezug aus. Das Erleben von Kunst ist ja auch immer in die jeweilige konkrete Zeit gestellt und erfährt durch sie einen Gutteil Zuschub von Assoziationen. Wir sind zur Zeit durch die prinzipiell glückhaften und befreienden Zeitumstände ganz unvermittelt auf die eigene Spurensuche gesetzt. Stehen vor der Aufgabe, die Spuren des selbst für uns selbst, untereinander und gegenüber dem bislang Außenstehenden in irgendeiner Form fassbar zu machen.
Etwas Wesenhaftes anschaulich greifbar werden lassen – und wir merken plötzlich wie schwierig es ist, eben noch gelebte Realität mit vorweisbaren Spuren wirklich verständlich zu benennen.
Die häufig anzutreffende Naivität und die durch nichts zu begründende Überhebung der bisherigen Drübenwelt erschwert dies zu dem. Bruchstücke der Mauer, möglichst farbig und in Kunststoff geschweißt, auf Straßenbasaren verkauft, oder bei Empfängen überreicht, geben in keiner Weise wider, was diese Mauer für uns bedeutete – ja, sie verkehren sie in ihr Gegenteil. Stehen bleibende Teile, wenn sie überhaupt den Verantwortlichen abgerungen werden können, reichen ohne Begleitdokumentation nicht aus, dem nicht Betroffenen jetzt oder später etwas von der Unmenschlichkeit dieser Grenze zu vermitteln. Welche Spuren haben wir selbst bis heute hinterlassen? Welche Spuren ermöglichen dem Gewesenen auch uns, die wir ohne Schlagzeilen auskommen mussten und auch weiterhin auskommen wollen, wenigstens annäherungsweise zu nachvollziehbarer Vergegenwärtigung zu verhelfen?
Es ist diese eigenartige Immaterialität, die uns beschäftigt. Und sie ist meines Erachtens in den Werken von Alexander Sgonina auf eine letztlich nicht erklärbare Weise Form geworden. Kratzspuren der bloßen Hand, festgezurrte, labile Papierstreifen oder freiaufgerichtete Körperformen, in deren organischen Aufbau zugleich auch wieder hart mechanisch eingegriffen wird, tragen offensichtlich Wirkungen in sich, die mit dem Sichtbaren angestoßen, Kraftfelder des Meditativen erzeugen. Diese von ihm meist als stehende Figuren bezeichneten Gefüge sind von jener anziehenden Instabilität geprägt, die zwangsläufig zu Fragen drängt.
Gefährdung, Verletzbarkeit, tastende Zurückhaltung verstärken ihrerseits eine Intension, die äußere Realitäten durchsichtig machen und damit zu neuen inneren Realitäten führen möchten. Namen wie Alberto Giacometti, Joseph Beuys oder auch Rainer Rutenbeck, der zur Zeit im Alten Museum seine Arbeiten zeigt, könnten hier genannt werden als ähnlich Gesinnte.
Alexander Sgonina hat mit diesen, seit 1986 zunächst erst zögernd vorgenommenen Formulierungen, die auch bis heute nur ein Teil seines Gesamtschaffens darstellen, einen eigenen und zu innerst erfüllten Weg beschritten, der, so glaube ich, ganz sicherlich seine Spuren hinterlässt.
Ich möchte schließen mit den Worten des japanisch-amerikanischen Bildhauers Isamu Noguchi zur Plastik, Worte, die meines Erachtens auch den Empfindungen und Gedanken Alexander Sgoninas nahe kommen könnten. Er sagte: (Zitat) „Das Wesen der Plastik ist für mich die Wahrnehmung des Raumes, das Continuum unserer Existenz. Die Dimensionen sind alle nur als Maßangaben davon zu verstehen, da in der relativen Perspektive unserer Sicht, Volumen, Linie und Punkt liegen und sich daraus Form, Entfernung und Proportionen ergeben, auch Bewegung, Licht und selbst die Zeit sind Eigenschaften des Raumes, Raum ist sonst nicht zu erfassen, sie sind die Wesenselemente der Plastik, und da sich unsere Auffassung von ihnen ändert, muss auch unsere Plastik sich verwandeln. Ich sage, es ist der Bildhauer, der den Raum ordnet, und mit Leben erfüllt, der ihm einen Sinn gibt.“ (Zitat Ende)
Schönen Dank!
Kurator Altes Museum/Neue Nationalgalerie
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